Niemand sollte sich schämen, länger die Schulbank zu drücken, aber bei knapp 26 Jahren wird sich vermutlich selbst die wohlwollendste Stirn in ein düsteres Runzelfeld verwandeln. 1997 war für die angehende Mischmascherin Marie zum ersten Mal Schulantritt oder vielmehr Studiumsbeginn an der Alchemie-Akademie. Damit ist sie nicht nur Langzeitstudiumsrekordhalterin, sondern zeitgleich auch die Ur-‘Zutaten-in-Kessel’-werferin der langlebigen Atelier-Reihe. Kein Wunder also, dass Schulleiter/Publisher Koei Tecmo mit Klassenlehrer/Entwickler Gust ihrer wahrlich längsten Schülerin eine neue Lernumgebung schaffen wollten, um ihren malitiös mangelhaften Mixturen und dilettantischem Destillieren endgültig ein Ende zu bereiten. Im Juli 2023 öffneten sich daher inAtelier Marie Remake: The Alchemist of Salburg(fortan um leserischer Verhaspelung vorzubeugenAtelier Marie Reabgekürzt) die Pforten der Königlichen Alchemie Akademie erneut in vollkommen neuem Glanz, um frischen Alchemie-Begeisterten sowie Kesselkennern einen Einblick in die Anfänge derAtelier-Reihe zu geben und Maries Treiben mitzuerleben. Dabei präsentiert sich der Titel als wunderputzigknuffeliges Casual-JRPG, das in manchen Fächern altersbedingt nachsitzen muss.
“Setzen, Sechs!” ist ein Satz, den Marie vermutlich so gut kennt, dass sie schon gar nicht mehr aufsteht. Sie drückt derart erfolgreich die Schulbank, dass sie und ihre Kameraden allesamt ebenerdig sitzen können und hat es bereits geschafft, in die Geschichte der Schule einzugehen: als schlechteste Schülerin seit Eröffnung. Ein Umstand, der die Leitung der Königlichen Alchemie Akademie von Schigsal, dem leicht angetrunkenen Nachbarkönigreich von Schicksal, in zutiefst trübsinniges Nachsinnen treibt. Entsprechend wird es Zeit für extreme Maßnahmen und so wird Marie ein Ultimatum gestellt. Sie bekommt einen eigenen Laden mit eifrig blubberndem Riesenkessel, den sie führen soll und aus dem bitte innerhalb von fünf Jahren ein möglichst sinnvoll hergestellter Alchemie-Gegenstand hervorgehen sollte, der nicht, Betonung nicht, in die Luft fliegt, in zischenden Säurewolken zerfließt und/oder interessiert Begutachtende mit Flüchen belegt. Ansonsten war es das mit der Alchemie-Lizenz. Eine hervorragend durchdachte Taktik getreu dem Motto ‘Probieren geht über studieren vor allem, wenn es darum geht, potentiell hochexplosive Gemische zusammenzupanschen, um sie an harmlos herumlaufendem Getier auszuprobieren’. Das Königreich Schigsal spielt mit dem Schicksal. Passend.
Aus Alt mach Neu …
Originaltitel | Atelier Marie Remake: The Alchemist of Salburg |
Jahr | 2023 |
Plattform | PC, PS4, PS5, Nintendo Switch |
Genre | JRPG, Lebenssimulation |
Entwickler | Koei Tecmo |
Publisher | Koei Tecmo |
Spieler | 1 |
USK | |
Veröffentlichung: 12. Juli 2023 |
Seit 26 Jahren scheucht dieAtelier-Reihe die unterschiedlichsten Damen in die Alchemie-Industrie. Unlängst hat der dritte und abschließende Teil der Ryza-Trilogie Atelier Ryza: Alchemist of the End & the Secret Keygroßen Erfolg gefeiert und nun wirft man mitAtelier Marie Re einen nostalgischen Blick zurück auf die Anfänge der Reihe, die sich über die Zeit hinweg zu einem präsenten Namen in der Spielelandschaft gemausert hat. Die Rückschau ist dabei eine durch und durch liebevolle, denn es handelt sich hierbei nicht um eine angepasste Version des Originals für westliche Gefilde, sondern eine vollständig neu herausgeputzte Iteration des Originals. Alles sieht zum An- und Abbeißen aus, insbesondere die knuddeligen Chibi-Figuren mit ihren riesigen Wackelköpfen, die durch die gewählte Statur gleichsam an ihre pixeligen Vorväter- und -mütter erinnern. Die aufwallende Anknabbersucht macht auch vor den Monsterchen nicht halt, die theoretisch auch als Plüschtier herhalten könnten, auch wenn es wohl fragende Blicke geben würde, wenn man eine Miniatur-Bikini-Schlangenfrau herzt. Aber egal ob Mann, Frau oder Schleimklumpen, alles wird in angenehm kräftigen, aber nie zu grellen Farben präsentiert. Auch die Visual Novel-artigen Zwischensequenzen haben neuen Pinsel- und Animationsschwung bekommen. Die Neuaufbereitung ist rundum gelungen, sei es optisch oder musikalisch und es hat ein bisschen etwas von einer lebendig gewordenen Playmobil-Stadt, nur weit weniger alptraumhaft als sich diese Vorstellung im Kopf entwickeln könnte.
… aber nicht ZU Neu
Der generelle Spielablauf bleibt dagegen erhalten und dürfte geradeAtelier-Fans wohlvertraut sein. Nach einer kurzen Einleitung wobbelt Marie schon in ihrem Laden, dem Städtchen und etwaigen Sammelgebieten in der Umgebung herum, denn der stets hungrig blubbernde Kessel will mit Rohmaterialien gefüllt werden, um sie zu neuen Gegenständen zu verkochen. Besagtes Kochgut muss aber erst dem ein oder anderen Knuddelmonster abgejagt werden, was in klassisch rundenbasierten Kämpfen geschieht. Weil ihre alleinigen Kampfärmchen nicht allzu muskulös sind, kann sich Marie Verstärkung in der Stadt anheuern. Abenteurer haben sowieso nie wirklich was zu tun, also können sie auch Gebirgswasserschleppen helfen oder Riesendiesteln aus Maries gewaltiger Haarpracht klauben. Umsonst ist die zusätzliche Tatkraft natürlich nicht, abseits von Maries fälschlich unwirtschaftlich denkenden Freundin Schea. Etwaige Bekanntschaften bei der Befriedigung der Material-Manie kann man auf Dauer befreunden, was sich positiv auf den eigenen Geldbeutel auswirkt. Freunden gibt man eben vielleicht mal ein paar zusammengekochte Küsschen, aber harte Münzen bleiben da wo sie sind. Marie ist nicht das schärfste Messer im Schrank, aber eben auch keine Holzkeule. Die neu hervorgeblubbernden Gegenstände können verkauft, in Quests abgegeben oder auf Monster geworfen werden. Denn was wäre Alchemie ohne Explosionen? Eben!
Gut Ding braucht viel viel Weil
Maries Tagwerk wird dabei vor allem von den zusätzlichen Aufgaben ihrer Mentorin/Antreiberin/schwebendem Damoklesschwert Ingrid geleitet, die dem Marie-Steuernden eine gewisse Orientierung geben. Denn, nicht anders zu erwarten von dem Begründer Reihe, istAtelier Marie Re ein Mix aus knuddeligem JRPG-Treiben und Management. Maßgeblich: Zeit-Management. Denn die erwähnte Frist von fünf Jahren ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern das faktische Limit von Maries kuriosem Geköchel. Jede Aktion verbraucht entsprechend Zeit. Ins Atelier zurückkehren? Ein Tag! Komisch riechendes Unkraut sammeln? Ein Tag! Zu den Sammelplätzen pilgern? Hol’ den Kalender raus! Schlafen? Synthetisieren? Die Wand anstarren? Zeit, Zeit, Zeit. All das muss mit entsprechenden Deadlines für Quests, anderen Events an bestimmten Tagen, persönlichen Aufgaben für Kollegen usw. vereinbart werden. Kein Wunder, dass Marie sich auch ein paar hilfreich helfende Elfen anheuern kann, um ihr die ein oder andere Tätigkeit abzunehmen. (Keine Sorge: Die Elfen werden anständig bezahlt. Oder zumindest kann niemand so schnell das Gegenteil behaupten, denn es gibt in Schigsal keinen festgelegten Mindestlohn.) Wer sich bereits bei dem Wort ‘Zeit-Management’ zu einer weinenden Kugel zusammengerollt hat, sei aber direkt beruhigt. Zwar gehörte dieser auf die Uhr tippende Ansatz lange Zeit zurAtelier-Reihe dazu, aber die Schulleitung hat einen Alternativmodus, der passenderweise Unlimited Mode heißt, hinzugefügt. Aus persönlicher Erfahrung sei aber auch hinzugefügt, dass selbst wenn man sich der Ursprungsherausforderung stellen will, es zu kaum bis gar keinen Schwierigkeiten durch die herabfallenden Kalenderblätter kommen sollte. Sie ist, insbesondere mit dem Endziel des Examens vor Augen, äußerst großzügig gesetzt.
Nachholfach: Herausforderung
Vielleicht fast schon zu großzügig, denn abseits des Zeit-Managements gibt es wenige wirkliche Herausforderungen, denen man sich stellen kann. Und damit sind nicht nur schweißtreibende Kämpfe gegen besonders fluffige Monsterchen gemeint, auch im Synthese-Kochtopf schwimmt ein eher seichtes Süppchen. Insbesondere jene, die durch die zuletzt erschienen Ryza-Titel zur Reihe gestoßen sind, sollten etwas aufpassen.Atelier Marie Rezeigt, wie die Reihe begonnen hat, und das ist äußerst interessant; die grundlegenden Elemente sind da und man sieht, selbst wenn man der Reihe nur am Rande gefolgt ist, wie sie sich ein wenig stärker von dem Management-Part weg und mehr zu einem Alchemie/Crafting basierten JRPG hinentwickelt hat, das sich vor allem durch seine offene und eher ruhig-harmonische Atmosphäre auszeichnet. Nur bedeutet das im Falle von Klein-Marie das natürlich vieles im Anfangsstadium ist. Die Synthese ist sehr simpel gehalten und ist maßgeblich ein ‘Pack-Drei-Nüsse-rein-bekomm-Bombe-raus’-System. Einzelne Materialien haben beispielsweise keine Zusatzeigenschaften oder eine eigene Wertigkeit, die die Qualität des Endprodukts bestimmt. Kombiniert man das mit dem ebenfalls sehr schlichten Kampfsystem, das weitestgehend aus ‘Attack’, ‘Defend’, ‘Use this one special’ besteht, kann, je nach eigener Erwartungshaltung, einem schnell die Puste ausgehen. Da auch die Figuren und Story-Events mehr schmunzeliges Beiwerk sind, könnte es problematisch sein, etwas zu finden, an dem man sich festbeißen kann.
Fazit
Außer natürlich, man will das gar nicht. Denn letztlich ist Atelier Marie Re vor allem ein nett harmonisches, knuffeliges Casual-JRPG, bei dem Bitte niemand den ‘Casual’-Sticker mit einem ‘Ihhh!’ betrachten soll. Es ist eben mehr ein entspannender Feel-Good-Titel, dem es an Gameplay-Tiefe mangelt. Mir ist es daher stellenweise zu simpel, gerade mit Blick auf das Herumpanschen im Alchemie-Topf und den Kämpfen, die mich nicht einmal dazu genötigt haben, mehr Bomben zu fertigen, um putzige Wölfchen in die Luft zu sprengen. Wozu habe ich die denn sonst!? Hier kann die persönliche Einschätzung stark variieren und selbstverständlich gibt es noch den Schwierigkeitsgradshebel an dem man ziehen kann, aber letztlich fehlt mir etwas an Komplexität. Für Fans der Atelier-Reihe ist es trotzdem eine Empfehlung; die schöne neue Aufmachung und der Einblick ins Urgestein der Weisen sind eine feine Sache. Ich habe immer nur hier und da eine Zehe in den Blubberkessel der Atelier-Titel gehalten und hatte meinen Spaß. Allerdings würde ich gerade denen, die sich vielleicht vor allem durch die neueren Titel wieAtelier Ryza,Atelier Sophie 2beschwingt fühlen, hier heranzutreten, Vorsicht walten zu lassen und gegebenenfalls, außer wenn die innere Synthese-Lust zu sehr juckt, auf ein Angebot zu warten, denn beim Vollpreis könnte man versucht sein, Marie auf der Schulbank sitzen zu lassen. Einen gewissen Wiederspielwert hat der Titel zwar über all die optionalen Event-Szenen, die man freischalten kann, aber am Gameplay ändert sich selbstverständlich nichts. Letztlich istAtelier Marie Remake: The Alchemist of Salburgein knuffig zuckriger Titel, dem es aber ein bisschen an einem ordentlichen Hauptgang mangelt. Vielleicht auch kein Wunder, wer weiß, was in einer Alchemie Akademie in der Cafeteria alles serviert wird?!
© Koei Tecmo